Überlegungen zwischen Trump und der Arteria trigemina
Am 23. April 2020 stellt sich Donald Trump vor die Öffentlichkeit und spekuliert darüber wie man mit UV-Licht oder Injektion von Desinfektionsmitteln eine bessere Waffe gegen das Corona-Virus haben könnte. Später behauptet er, das sei alles nur Sarkasmus gewesen. Man kann sich anhand der Videoaufzeichnung bei YouTube selbst ein Bild davon machen, ob das glaubhaft ist oder nicht. Ich persönlich müsste meine komplette Lebenserfahrung verleugnen, wenn ich diesem Lügner in diesem Fall glauben sollte.
Aber was macht das Ganze zu einem so unglaublich beunruhigendem Vorfall? Ist es nicht so, dass keiner von uns immer ganz genau Bescheid weiß? Gibt es überhaupt so etwas wie die letzte Wahrheit? Und falls ja, können wir sie erfassen?
Und jetzt für uns Radiologen: Haben wir eine Chance, in unseren Bildern immer alles komplett und richtig zu erfassen? Müssen wir immer alles ganz genau wissen?
Ich habe seit längerem mal wieder angefangen einen Artikel für die deutsche Wikipedia zu schreiben. Wie so oft war der Anlass ein aktueller Fall, der interessant ist, für den die Bilder ganz gut gelungen sind und bei dem es zu dem Thema noch keinen Artikel in der Wikipedia gibt (in der englischen gab es schon einen, aber wenn ich schreibe, dann in der deutschen).
Ein älterer Patient wird bei einer unklaren Symptomatik mit mehreren Malignomen im MRT untersucht. Dabei findet sich zwar (zum Glück) nichts metastatisches und auch sonst keine klare Ursache für seine akuten Symptome. Aber sein Circulus Willisi ist nicht normal, was auch ohne TOF nicht zu übersehen ist. In den axialen Schichten (T1 KM 8mm MIP) fällt als erstes eine kaudal sehr schmächtige A. basilaris auf. Dann kommt von rechts von der ACI ein kräftiges Gefäß (roter Pfeil), das noch die Aa. cerebelli superiores abgibt und dann in die A. cerebri posterior zieht.
Jetzt erinnern wir uns vage an die karotido-basilären Anastomosen. Aber so selten wie die sind, müssen wir das doch nachschlagen. Und da fällt dann auf, dass es dazu noch keinen Artikel in der deutschen Wikipedia gibt.
Wikipedia?
Ist es überhaupt eine gute Idee, bei fachlichen Fragen in der Medizin in der Wikipedia nachzuschauen? Nun, dazu muss sich man verschiedene Fragen stellen:
- Gibt es überhaupt einen Artikel, der die gesuchte Information enthält
(in meinem Fall: Nein!)? - Hat ein gefundener Artikel genügend Tiefe, dass die Frage, die ich an ihn habe, beantwortet wird?
- Ist die gebotene Information plausibel? (Kann nur beantwortet werden, wenn die nächste Frage mit ja beantwortet wurde.)
- Habe ich selbst genug Vorwissen, um eine Information einzuordnen?
- Was wäre die Konsequenz, wenn die Information falsch oder ungenau wäre?
Hört sich alles ganz klar und selbstverständlich an. Aber wenn ich an den Anfang dieses Beitrags denke, ist es das heute eben absolut nicht. Und daher ist es wohl nötig, es noch mal so ganz klar zu sagen.
Und jetzt noch einmal zu dem letzten Punkt oben:
Es ist durchaus ein Unterschied, ob ich in einem radiologischen Befund einen Fehler mache oder etwas vergesse, was für den Patienten keinerlei Rolle spielt (nicht erwähntes kleines Falxlipom bei einem Metastasen-Hirn) oder eben doch. Und es macht einen Unterschied, ob eine falsche Aussage sonst eine negative Konsequenz hat. Was könnte das bei einem radiologischen Befund sein? Die Realität ist doch wohl die, das ein nicht kleiner Teil von geschriebenen Befunden eh nie ganz gelesen wird. Zunehmend kopieren klinische Kollegen nur noch die Beurteilungen zusammen und der eigentliche Befundtext verschwindet im Langzeitarchiv. Oder?
Es gibt zumindest noch zwei Aspekte, die Fehler bei der Befundung nicht ganz so lasch beurteilen lassen.
Erstens besteht durchaus die Möglichkeit, dass aus diesen Langzeitarchiven irgendwann mittels Data-Mining (oder wie auch immer im Detail die Techniken dann heißen) Auswertungen erfolgen, deren Güte dann durchaus direkt von der Güte der Quelle, nämlich unserer Befundtexte, abhängt. Das bedeutet, wenn wir schlechte Befunde schreiben, werden auch solche Systeme schlecht sein. Ob man das für realistisch in der greifbaren Zukunft hält und ob man solche System will, kann man diskutieren.
Zweitens aber sehe ich einen ganz konkreten Grund, warum es auch dann absolut erstrebenswert ist, exakt und möglichst Relevanz-orientiert komplett zu befunden. Bevor nämlich irgendein KI- oder Data-Mining-System meine alten Befunde liest, tun es die (jüngeren) Kollegen, wenn der Patient zu einer Folgeuntersuchung kommt und die alten Bilder und Befunde verglichen werden. Und natürlich orientieren sie sich an dem, was die älteren, erfahreneren geschrieben oder nicht geschrieben haben. Natürlich werden sie es übernehmen, wenn ich nicht zwischen amorpher Verkalkung und Ossifikation unterscheide. Und natürlich werden sie falsche anatomische Bezeichnungen (Massa lateralis des Sakrums statt richtig Pars lateralis) übernehmen! (Natürlich gibt es glücklicherweise auch junge Kollegen, die es sich nicht so einfach machen. Aber wir müssen damit rechnen, dass es gerade in einer Zeit, in der der Mensch nicht mehr daran gewöhnt wird, dass saubere Informationsbeschaffung mühsam sein kann, eben nicht immer so ist.)
Level der Überprüfung
Um jetzt nicht nur mit dem erhobenen Zeigefinger dazustehen und so zu tun, als hätte ich einen Grad an Korrektheit und Unfehlbarkeit erreicht, der einem amerikanischen Präsidenten zur Ehre gereichen würde, möchte ich verschiedene Level vorstellen, die für mich unterscheiden, wie stark ich eine Aussage überprüfen sollte und es dann auch so zu tun:
- etwas hat absehbar keine Konsequenzen für den Patienten
- etwas wird dem nächsten Befunder auch auffallen
- etwas hat vielleicht für den Patienten Konsequenzen
- etwas hat sicher Konsequenzen für den Patienten
- ich mache diese Aussage in einem lehrenden Kontext / ich veröffentliche etwas
Diese Liste ist durchaus so zu lesen, dass die Sorgfalt von Punkt 1 zu Punkt 5 zunehmen sollte. Wer jetzt fragt, warum eine Veröffentlichung einen höheren Anspruch an Sorgfalt erhebt als der Befund eines konkreten Patienten, der sollte sich vor Augen halten, dass eine Veröffentlichung ja zum Ziel hat, gelesen zu werden. Und somit als Grundlage für Entscheidungen für andere konkrete Patienten dienen wird. Und zwar mehr als einen.
Und dabei ist es prinzipiell egal, ob die Veröffentlichung ein einem hochkarätigen Journal oder nur eingeschränkt peer-reviewed bei Wikipedia erfolgt. Gelesen wird beides und somit muss man damit rechnen, dass das, was man da von sich gibt, mit in die Entscheidung eines anderen Radiologen oder sonstigen Mediziners einfließt.
Ich habe mal aus der T1 3D KM-Sequenz mit etwas Beschneiden ein Volumenrendering-Bild gemacht (Blick von hinten oben). Man erkennt, dass das abnorme Gefäß (eine persistierende A. trigemina) von rechts kommend nach dem Abgang der Aa. cerebelli superiores letztlich in die A. cerebri posterior links mündet, während die rechte Posterior von vorne gespeist wird. Darunter ist die A. basilaris nur sehr dünn und nach dem Abgang der AICA nur noch filiform.
Mehr Bilder zum Fall auch zum durchscrollen finden sich hier.
Wer beim Schreiben und Verbessern des Artikels zur Arteria trigemina mithelfen will, ist herzlich eingeladen. Er findet sich https://de.wikipedia.org/wiki/Arteria_trigemina. Beim Schreiben und Recherchieren lernt man immer viel dazu. (Unter anderem auch wie kritisch man auch Aussagen in Fachpublikationen nehmen muss.)
Fazit
- Bei der Befundung von radiologischen Bildern werden Fehler passieren und nicht immer sind die Folgen davon schwerwiegend. Wir sollten uns aber bei der Entscheidung, wie aufwendig wir etwas nachlesen und beschreiben, die jeweils möglichen Konsequenzen vor Augen halten.
- Wenn wir (gleich wo) etwas veröffentlichen wollen, sollten wir die Chance nutzen, dann den Sachverhalt soweit zu recherchieren, dass die Veröffentlichung tatsächlich für die Leser ein Gewinn gegenüber dem ist, was schon veröffentlicht ist. Das kann (bei Wikipedia) auch die effektiv bessere Verfügbarkeit (z. B. ohne Bezahlschranken) sein.
- Donald Trump ist ein narzisstischer Lügner.